{"id":6639,"date":"2020-10-14T09:29:37","date_gmt":"2020-10-14T09:29:37","guid":{"rendered":"https:\/\/fotoreiseblog.highlighttours.de\/?p=6639"},"modified":"2024-07-19T18:49:12","modified_gmt":"2024-07-19T18:49:12","slug":"die-muehlen-am-fluss","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/fotoreiseblog.highlighttours.de\/die-muehlen-am-fluss\/","title":{"rendered":"Die Suche nach den M\u00fchlen am Fluss"},"content":{"rendered":"\n
Dies ist die Geschichte einer Spurensuche, die im Montiferru-Gebirge auf Sardinien beginnt und in Hamburg in der Speicherstadt (vorl\u00e4ufig) endet. Alles begann mit einer r\u00e4tselhaften M\u00fchle am Fluss. Die Suche nach Erkl\u00e4rungen und Zusammenh\u00e4ngen f\u00fchrte mich buchst\u00e4blich \u00fcber Stock und Stein, durch Gestr\u00fcpp und Lorbeerdickicht und barfu\u00df durch den Fluss. Sie brachte mich mit vielen hilfsbereiten Menschen zusammen, die St\u00fcck f\u00fcr St\u00fcck ein Informationspuzzleteilchen zum anderen f\u00fcgten, um das R\u00e4tsel zu l\u00f6sen.<\/p>\n\n\n
Einen Teil des Jahres lebe ich im Westen Sardiniens in Cuglieri, einem kleinen Ort im Montiferru-Gebirge. Vulkangestein pr\u00e4gt hier die Landschaft mit dem h\u00f6chsten Berg auf 1050 Metern und Basaltklippen am Meer. Fl\u00fcsse winden sich aus den Bergen hinab, spenden Wasser f\u00fcr Viehhaltung und Ackerbau, es gibt sogar mehrere Wasserf\u00e4lle. Einer zieht mich seit vielen Jahren immer wieder an. Er st\u00fcrzt in eine enge Schlucht mit einer 30 Meter senkrecht abfallenden Felswand. An seinem Fusse erzeugen der Duft von Lorbeerbl\u00e4ttern und das Rauschen des Wassers eine verwunschene Atmosph\u00e4re. Manch einer will hier schon Feen gesehen haben. Es ist die Cascata Riu Sos Molinos, der Wasserfall am Fluss der M\u00fchlen.<\/p>\n\n\n
Der Name machte mich neugierig. Was ist aus diesen M\u00fchlen, die dem Fluss seinen Namen gaben geworden? Gibt es noch Geb\u00e4udereste, Geschichten, vielleicht sogar Hinweise auf die verwendete M\u00fchlentechnik? Am Pfad, der zum Wasserfall hinunter f\u00fchrt, steht auf einem schmalen Absatz am Hang ein einfaches Geb\u00e4ude aus grauem Naturstein. Vor der Hauswand streckt ein m\u00e4chtiger Lorbeerbaum seine Zweige zum Licht. Das Innere ist nur ein dunkler, schmuckloser Raum, der nicht zum Verweilen einl\u00e4dt und keine Geheimnisse enth\u00fcllt. K\u00f6nnte das von einer alten M\u00fchle sein? Eine Informationstafel mit erkl\u00e4rendem Text beschreibt die Besonderheiten von Flora und Fauna rund um die Cascata, doch zum Ursprung des grauen H\u00e4uschens gab es keine Erkl\u00e4rungen. Ich entdeckte ein paar schmale, halb verborgene Fu\u00dfpfade, auf denen ich mich umschaute, doch Reste ehemaliger M\u00fchlentechnik habe ich in der n\u00e4heren Umgebung des Wasserfalls nicht entdecken k\u00f6nnen. Als n\u00e4chstes fragte ich bei Freunden und Bekannten herum und versuchte nat\u00fcrlich auch, im Internet Antworten zu finden. Lange Zeit blieb diese Suche erfolglos, das ungel\u00f6ste R\u00e4tsel um die Geschichte der M\u00fchlen lie\u00df mich aber nie ganz los.<\/p>\n\n\n
Erst vor kurzem bekam ich von einem Freund den Hinweis, dass es auf ganz Sardinien und besonders h\u00e4ufig im Montiferru in den zur\u00fcckliegenden Jahrhunderten Wasserm\u00fchlen zur Textilbearbeitung gegeben hat. Im Deutschen gibt es hierf\u00fcr den Begriff Walkm\u00fchle, auf Italienisch hei\u00dft diese M\u00fchle Gualchiera. Das war ein Durchbruch bei der Suche nach mehr Informationen vor Ort und im Internet. Jetzt hatte ich einen Suchbegriff und konnte auch vor Ort die richtigen Fragen stellen. Die Antworten ver\u00e4nderten das Bild, das ich mir im Kopf schon voreilig von den (Getreide)-M\u00fchlen am Fluss gemacht hatte, komplett. Im Internet fand ich Fotos von Teilen einer Gualchiera, die im Museo della Tecnologia Contadina (in etwa: Museum der b\u00e4uerlichen Handwerkstechniken) in dem Montiferru-Ort Santu Lussurgiu ausgestellt sind. Das sah nach einer verhei\u00dfungsvollen Spur aus. Mit einem Zettel voller Fragen machte ich mich auf den Weg dorthin. <\/p>\n\n\n
Einen ersten Eindruck vom Funktionsprinzip vermittelte mir die Skizzen auf einer Infotafel des Museums am Wegesrand. Auf dem Bild ist gut zu erkennen, dass es in einer Gualchiera kein Mahlwerk gab, auch keine M\u00fchlsteine und keinen Trichter f\u00fcr die Getreidek\u00f6rner. Im Zentrum standen vielmehr zwei gro\u00dfe h\u00f6lzerne H\u00e4mmer, die ein St\u00fcck Wollstoff mit Schl\u00e4gen bearbeiteten. Der Stoff wurde gewalkt. Angetrieben wurde das Hammerwerk \u00fcber ein M\u00fchlrad, das vertikal ausgerichtet war. Vom Fluss wurde \u00fcber eine Canaletta, einen kleinen Kanal, Wasser abgezweigt und auf das M\u00fchlrad geleitet. Das Rad drehte eine h\u00f6lzerne \u201eNockenwelle\u201c, die die beiden H\u00e4mmer alternierend in Bewegung setzte.<\/p>\n\n\n\n
Was aber genau mit Textilbearbeitung oder Walken gemeint war, konnte ich mir immer noch nicht so richtig vorstellen. Handelte es sich um Filz? Loden? Oder wurde dort nach der Schafschur die Rohwolle weiterverarbeitet? Ein Besuch des Museums f\u00fcgte ein weiteres Puzzleteilchen anschaulicher Information hinzu. Das Museum wurde 1976 vom Kulturzentrum UNLA gegr\u00fcndet. UNLA steht f\u00fcr \u201cVereinigung zum Kampf gegen Analphabetismus\u201d. Unter dem Motto \u201ef\u00fcr permanente Bildung\u201c ist der Rundgang durch die insgesamt 10 R\u00e4ume sowohl als historische als auch als didaktische Tour konzipiert. Die Vereinigung ist Tr\u00e4ger des Museums. Die Museumsf\u00fchrer arbeiten dort ehrenamtlich.<\/p>\n\n\n
Eine von ihnen ist Cecilia Casula, eine kompetente junge Frau, die sich sehr viel Zeit nahm, um mir alle meine Fragen zu beantworten und die Technik anhand der Exponate zu erkl\u00e4ren. In einem der Ausstellungsr\u00e4ume sind die wesentlichen Original-Elemente einer Gualchiera aufgebaut: Das Hammerwerk aus imposanten Eichenholzbalken, die Antriebswelle und das M\u00fchlrad. Die Teile sind 1976 an ihrem urspr\u00fcnglichen Standort in Santu Lussurgiu abgebaut und ins Museum gebracht worden. Der gesamte Aufbau misst ungef\u00e4hr 3 x 3,50 Meter und ist \u00fcber 2 Meter hoch. Der Anblick l\u00f6ste bei mir Hochachtung aus vor der alten Zimmermannskunst, den Menschen, die diese Tradition bewahrt haben und auch vor den kr\u00e4ftigen Armen, die (mit welchen einfachen Hilfsmitteln auch immer) die schweren Einzelteile zusammengef\u00fcgt haben. Die m\u00e4chtigen Hammerbalken haben einen Querschnitt von gut 20 x 30 cm. An dem Ende, das auf den Stoff schl\u00e4gt, sind die H\u00e4mmer gez\u00e4hnt. Sie sehen damit ein bisschen wie \u00fcberdimensionierte Fleischklopfer aus.<\/p>\n\n\n
Das Prinzip der Kraft\u00fcbertragung vom M\u00fchlrad auf die H\u00e4mmer wurde mir an einem kleinen Model demonstriert, bei dem das Wasserrad durch eine Kurbel ersetzt ist. Eine Mini-Gualchiera zum Selberdrehen, die auf einem DIN-A4-Bogen Platz h\u00e4tte. Routiniert kurbelte Cecilia und lie\u00df die H\u00e4mmer fliegen. Und wozu diente der ganze Aufwand, welche Art von Textil wurde dort produziert, fragte ich? Auch dazu gab es einen Raum mit Exponaten. Die H\u00e4mmer schlugen kontinuierlich auf ein gewebtes St\u00fcck Tuch ein. Das angefeuchtete Schafwollgewebe wurde dadurch verfilzt. Es entstand ein robuster und wasserabweisender Stoff. Dieses Textilprodukt nennt man auf Sardinien Orbace. Ein deutsches Pendant w\u00e4re der Lodenstoff, der im Herstellungsprozess mit dem Orbace das Verfilzen durch Walken gemeinsam hat, aber im Detail etwas anders aussieht. Beim Loden wurden die F\u00e4den des Gewebes durch das Walken vollst\u00e4ndig versteckt.<\/p>\n\n\n
Klickt man zum Vergr\u00f6\u00dfern auf das Foto des Hirtenmantels oben, ist gut zu erkennen, dass hier die Webf\u00e4den sichtbar sind. Orbace wurde zu traditionellen Hirten-Kapuzenm\u00e4nteln und zu Packtaschen f\u00fcr Pferd und Esel verarbeitet. Er gilt als die \u00e4lteste sardische Textilart. \u00c4hnliche M\u00e4ntel hatte ich im Fr\u00fchjahr beim Karneval gesehen. Sie sind als Bestandteil der traditionellen Karnevals-Tracht typisch f\u00fcr manche Bergd\u00f6rfer Zentralsardiniens.<\/p>\n\n\n
Um den Herstellungsvorgang zu verdeutlichen, war im Museum ein Webstuhl aufgebaut. Solche Webst\u00fchle gab es fr\u00fcher in vielen Haushalten auf Sardinien. In einigen Orten ist diese Handwerkskunst noch heute lebendig, etwa im Teppichweberinnen-Dorf Samugheo. Um ein wirkliches Bild von dieser T\u00e4tigkeit zu bekommen, besuchte ich Anna Fara in Cuglieri. Sie fertigt an ihrem Webstuhl auf Bestellung Decken, Taschen und Streifenteppiche an. Orbace ist nicht ihr Thema. Doch die Technik des Webens wurde durch ihre Erl\u00e4uterungen f\u00fcr mich sehr viel lebendiger. Ich durfte sie bei der Arbeit fotografieren und erfuhr ganz nebenbei noch viel \u00fcber die Textilkunst-Tradition von Cuglieri.<\/p>\n\n\n
Das Funktionsprinzip der Gualchiera und die Details der Textilbearbeitung, zu der die M\u00fchle eingesetzt wurde, waren jetzt klar. Um so richtig einzutauchen in die Vergangenheit der M\u00fchlentechnik auf Sardinien, h\u00e4tte ich gerne noch eine echte Walkm\u00fchle mit allem Wenige Tage sp\u00e4ter zeigte mir Gabriella Belloni vom CEAS Don Deodato Meloni (Umweltbildungszentrum D. Meloni) wo es lang geht. Eine engagiert, kluge Frau, Doktorin der Philosophie, die nach ihrem Abschluss in Philosophie in Rom als Forscherin in Deutschland und Italien an den Themen des 16. und 17. Jahrhunderts arbeitete. Seit 2002 f\u00fchrt sie zusammen mit ihrer Tochter in Santu Lussurgiu das Albergo Antica Dimora del Gruccione<\/a>. \u00dcber Wege, die ich allein nur schwer gefunden h\u00e4tte, f\u00fchrte sie mich zu einem Fluss, sieben Kilometer au\u00dferhalb des Ortes. Inmitten von Feldern und G\u00e4rten stellten wir das Auto ab. Die letzten Schritte gingen wir zu Fu\u00df, \u00fcberquerten eine kleine Br\u00fccke und standen vor dem unscheinbaren M\u00fchlenhaus. Ein Kleinod, eine der letzten ihrer Art, inmitten einer gr\u00fcnen Idylle am Wasser.<\/p>\n\n\n Das H\u00e4uschen aus Naturstein enth\u00e4lt im Inneren noch das komplette, wasserangetriebene Hammerwerk aus Holz. Es hat gro\u00dfe \u00c4hnlichkeit mit dem Exponat im Museum. Und doch war es ein ganz anderes Erlebnis, fast f\u00fchlte ich mich, wie auf einer Zeitreise in die Vergangenheit.<\/p>\n\n\n Auch das vertikale M\u00fchlrad ist noch vorhanden. Es befindet sich au\u00dfen an der Hauswand. Das von oben darauf flie\u00dfende Wasser wird \u00fcber einen Minikanal aus dem Fluss abgezweigt. Bei meinem Besuch war dieser Mechanismus nicht mehr aktiv, das M\u00fchlrad war malerisch von Vegetation umgeben. Nebenan sprie\u00dfen Gem\u00fcse und Blumen \u00fcppig in einem Synergie-Garten. Das ist ein Garten, der, nachdem er einmal aufgebaut ist, keine Arbeit macht, erkl\u00e4rte mir Gabriella.<\/p>\n\n\n Das Wasser rauschte leise, V\u00f6gel zwitscherten, es war eine m\u00e4rchenhafte Atmosph\u00e4re, ein Ort, an dem man zur Ruhe kommt. F\u00fcr den Herbst sind Restaurierungsarbeiten geplant, berichtete Gabriella. Vielleicht darf ich dabei sein.<\/p>\n\n\n Bei meiner Suche nach den M\u00fchlen am Fluss habe ich etwas Besonderes kennengelernt. Die meisten M\u00fchlen, die auf Sardinien in den vergangenen Jahrhunderten in Betrieb waren, haben mit Wasserkraft Getreide zu Mehl gemahlen. Die Gualchiera ist der seltenere Typ. Bei dieser Entdeckungsreise auf den Spuren der sardischen M\u00fchlen habe ich viele hilfsbereite Menschen kennengelernt, die sich Zeit f\u00fcr ein Gespr\u00e4ch nahmen und geduldig meine Fragen beantworteten. Sie haben mich Schritt f\u00fcr Schritt vorangebracht. So ist aus einem Puzzle von Einzelinformationen am Ende ein Gesamtbild der fast vergessenen M\u00fchlentechnik und Textiltradition entstanden. Im Museum vermutet man \u00fcbrigens, dass es sich bei dem H\u00e4uschen am Wasserfall, das am Anfang meiner M\u00fchlenrecherche stand, nicht um eine Gualchiera sondern um die Reste einer Getreidem\u00fchle handelt. Leider seien aber nicht gen\u00fcgend Spuren gefunden wurden, um diese Vermutung zu belegen. Doch eine der alten Getreide<\/em>m\u00fchlen habe ich dann tats\u00e4chlich versteckt hinter Brombeerranken und wilden Disteln am \u201eFluss der M\u00fchlen\u201c gefunden. Aber das w\u00e4re der Stoff f\u00fcr eine Fortsetzungsgeschichte :-).<\/p>\n\n\n\n Die Walkm\u00fchlen-Technik ist nicht auf Sardinien beschr\u00e4nkt. In unterschiedlicher Ausf\u00fchrung gab es Wasserm\u00fchlen zur Textilbearbeitung schon im 12. Jahrhundert, vereinzelt auch fr\u00fcher in ganz Europa. Auch in Deutschland gab es also im Mittelalter Walkm\u00fchlen. Das brachte mich auf eine neue spannende Frage: Seit vielen Jahren fotografiere ich mit meinen Fotokursteilnehmern das Hamburg-Bild schlechthin, das Wasserschloss, in der Ansicht von der Poggenm\u00fchlenbr\u00fccke.<\/p>\n\n\n
Drum und Dran in ihrer nat\u00fcrlichen Umgebung am Fluss gesehen. Ich erfuhr, dass es auf der Insel heute noch genau zwei Walkm\u00fchlen gibt, bei denen sowohl das Wasserrad als auch das Hammerwerk noch vorhanden sind. Sie werden auf die Zeit um 1700\/1800 datiert. Eine befindet sich in Tiana, einem Bergdorf in der Provinz Nuoro. **) <\/sup> Die zweite steht hier in Santu Lussurgiu, sagte Cecilia. Welch eine Gelegenheit! Ich wurde ganz euphorisch vor Entdeckerfieber. W\u00e4re es m\u00f6glich, dass ich diese M\u00fchle sehen k\u00f6nnte? Ein Besuch l\u00e4sst sich vielleicht verabreden, meinte Cecilia. Sie stellte den Kontakt her.<\/p>\n\n\n<\/a>
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